Das Bundesverfassungsgericht hat die Vorratsdatenspeicherung mit seinem Urteil vom 2. März 2010 für verfassungswidrig erklärt und das Gesetz aufgehoben. Seitdem ist die Wiedereinführung in der Bundesregierung, zwischen Länderkoalitionen und in der EU, zwischen Polizei und Bürgerrechtsorganisationen äußerst umstritten. In der anlasslosen Speicherung aller Kommunikations-Verbindungsdaten sehen wir einen unangemessenen Eingriff in das Fernmeldegeheimnis, dessen Schwere durch kein noch so bedeutsames anderes Interesse ausgeglichen werden kann. In Anlehnung an die frühere Rechtsprechung des BVerfG halten wir eine solche pauschale Speicherung für nicht mit dem Grundgesetz vereinbar, da sie das Fernmeldegeheimnis aus Art. 10 Abs. I GG in seinem Wesensgehalt verletzt.
Diesen Befund teilte das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 2. März 2010 ausdrücklich nicht (s. Rdnr. 215), zugleich machte es aber deutlich, dass es sich bei der Vorratsdatenspeicherung um einen besonders schweren Eingriff mit einer Streubreite handle, wie sie die Rechtsordnung bisher nicht kennt.
Die Vorratsdatenspeicherung muss nun unter dem Eindruck fortschreitender Technik neu bewertet werden. Denn die Verkehrsdaten der Telekommunikation verraten nicht nur, wer, wann, mit wem, wie lange kommuniziert hat, sondern sofern es sich um Handy, Smartphones oder Mobile Computing handelt – dazu gehören auch die Navigationssysteme moderner Fahrzeuge – wo sich eine Person aufhält und wohin sie sich bewegt. Mit Einführung der Smartphones und Ubiquious Computing hat der Grad der möglichen Überwachung aller Bürgerinnen und Bürger eine neue Qualität erreicht. Diese Verkehrsdaten lassen nicht nur umfassende Einblicke in persönliche Kommunikation zu, sie geben auch Aufschluss über Verhaltensweisen, Gewohnheiten und Beziehungsnetzwerke und erzeugen permanente Bewegungsbilder sämtlicher Nutzer. Denn moderne Smartphones greifen ständig auf das Internet zu oder tauschen über sog. Apps laufend Datenpakete z. T. unkontrolliert aus. Erst kürzlich ist dies durch einen angeblichen „Softwarefehler“ bei Apple öffentlich geworden.
Gerade unter dem Aspekt, welchen Stellenwert Telekommunikation heute einnimmt, muss die Verhältnismäßigkeit der Vorratsdatenspeicherung von allen beteiligten Akteuren noch einmal kritisch geprüft werden. Die EU-Kommissarin Cecilia Malström gab bereits zu bedenken, dass die Richtlinie eventuell rechtmäßig eingeführt wurde, sich ihr Charakter aber durch zwischenzeitliche Entwicklungen geändert haben könne und sie nunmehr keinen angemessenen Ausgleich mehr zwischen individuellen Rechten und staatlichen Interessen herstellt.
Die Schwere eines Grundrechtseingriffs richtet sich in erster Linie danach, welchen Stellenwert der geschützte Handlungsbereich – hier die Telekommunikation – für ein selbstbestimmtes Leben einnimmt, sprich: wie und wozu Menschen diese Freiheiten nutzen. Und in dieser Hinsicht erfährt die Telekommunikation seit einigen Jahren einen radikalen Wandel: Bei Smartphones gerät das Telefonieren zum Beiwerk. Ihre Leistung besteht darin, alle möglichen Dienste jederzeit verfügbar zu haben: vom ständig verfügbaren Internet in der Hand- oder Hosentasche, der Standortbestimmung in Echtzeit, der Lokalisierung von Freunden und Bekannten, der Terminverwaltung bis zum globalen Nachrichteneingang, der alle Sprach-, Fax- und Textnachrichten jederzeit ausspuckt. Ein gutes Smartphone weiß am Ende des Tages mehr über seine Besitzerin oder seinen Besitzer als er oder sie selbst.
Die Anlasslose Vorratsdatenspeicherung stellt zudem alle Bürgerinnen und Bürger, die die beschriebenen Kommunikationswege benutzen, unter Generalverdacht und hebt damit das in unserer Rechtsordnung verankerte Prinzip der Unschuldsvermutung auf.
Aber auch unter dem Aspekt der Verfolgung von schweren Straftaten wird die Tauglichkeit der Vorratsdatenspeicherung maßlos überzeichnet: Sie kann die Nutzung anonymer Pre-Paid Karten nicht verhindern und es bestehen Zweifel darüber, ob die Speicherung aller Verbindungsdaten tatsächlich zur Kriminalitätsbekämpfung erforderlich ist. Weder eine Studie des Freiburger Max-Planck-Instituts noch die vom BKA vorgelegten Zahlen konnten die These der zunehmenden Beweislücken im digitalen Raum bestätigen. Auch in der polizeilichen Kriminalstatistik finden sich keine Anhaltspunkte dafür, dass die Vorratsdatenspeicherung die Aufklärungsquoten signifikant steigern könne. Nicht zuletzt zeigen die Schwierigkeiten, welche die Europäische Kommission mit der Evaluation der EU-Richtlinie hat, dass der zahlenmäßige Nachweis für die Erforderlichkeit der Vorratsdatenspeicherung schwer fällt. Und inwiefern die Vorratsdatenspeicherung geeignet und erforderlich ist, um terroristische Anschläge zu verhindern, ist ebenfalls fragwürdig. Ingesamt wiegt der gesamtgesellschaftliche Grundrechtseingriff angesichts der technischen Möglichkeiten so schwer, dass dies auch nicht mit dem Hinweis auf Ermittlungserfolge im Einzelfall gerechtfertigt werden kann. Ob das in der amerikanischen Rechtsordnung bekannte „Quick Freeze“ Verfahren, das bedeutet die Anordnung einer umfassenden Sicherung von Kommunikationsdaten in bestimmbarem Umfang nach einer Straftat, hierfür geeignet sein kann, ist ebenso umstritten und bedarf der sorgfältigen Überprüfung.
Die Grünen Mitglieder der Landesregierung und die Landtagsfraktion werden deshalb in ihrem Bemühen bestärkt,
- auf die Gefahren, die sich für die Bürgerrechte durch gewachsenen Umfang und neue Qualität einer Vorratsdatenspeicherung ergeben, durch geeignete öffentliche Diskussionen und Expertenanhörungen mit Bürgerrechtsorganisationen auch in Richtung auf eine Überarbeitung der EU-Richtlinie aufmerksam zu machen,
- mit Rücksicht auf ähnliche Argumentationen in der EU zu prüfen, inwiefern sich der Grundrechtseingriff durch Vorratsdatenspeicherungen unter dem Eindruck fortgeschrittener Technik zu ungunsten der Individualrechte verschärft hat,
- sich dafür einzusetzen, dass auch in der Innen- und Rechtspolitik des Landes deutlich wird, dass Wahrung der Bürgerrechte und eine erfolgreiche Kriminalpolitik kein Gegensatz sind,
- im Hinblick auf eine Entscheidung im Bundesrat von der Koalitionsklausel Gebrauch zu machen und keiner Vorratsdatenspeicherung zuzustimmen.
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