Von Yazgülü Zeybek
Unser deutsches Ausbildungssystem ist ein einzigartiger Wohlstandsgenerator. Es ermöglicht Unternehmen, qualifizierte Fachkräfte auszubilden und bietet jungen Menschen die Chance, am Wohlstand teilzuhaben – unabhängig vom Geldbeutel oder Bildungsniveau der Eltern. Berufsausbildungen bieten einen nachhaltigen Weg raus aus der Armut. Trotzdem ist eine Berufsausbildung für viele junge Menschen nicht attraktiv. In nahezu jedem Betrieb fehlen Auszubildende. Vor Beginn des nächsten Ausbildungsjahres am kommenden Donnerstag stehen in Nordrhein-Westfalen rund 35.000 Jugendliche ohne Ausbildungsplatz da, mehr als 47.000 Ausbildungsplätze sind unbesetzt. Kaum auskömmliche Ausbildungsgehälter, wenige Teilzeitmöglichkeiten, starre Ausbildungsmodelle, veraltete Berufsbildungszentren – die Mängelliste ist lang. Wir müssen die Berufsausbildung wieder attraktiver machen. Für junge Menschen nach der Schule genauso wie für Mütter oder Langzeitarbeitslose, die wieder in den Beruf einsteigen wollen oder für Studierende, die merken, dass die Universität doch nichts für sie ist. Zeit, dass wir das anpacken und wichtige Maßnahmen umsetzen:
1. Eine starke Lobby für Azubis: Auszubildendenwerke schaffen. Junge Menschen können sich allein schon wegen hoher Mieten oft schlicht keine Ausbildung leisten. Für ein durchschnittliches WG-Zimmer gehen laut Monitor Jugendarmut 2022 für Fachschülerinnen und Fachschüler knapp 70 Prozent des BAföGs drauf. Besonders in Großstädten bleiben deshalb viele Azubi-Stellen unbesetzt. Wir wollen für Auszubildende, was für Studierende längst selbstverständlich ist: Die Studierendenwerke in NRW haben im Jahr 2022 knapp 40.000 Wohnheimplätze vermietet – mit einer durchschnittlichen Warmmiete von 280 Euro. Davon können Auszubildende in Großstädten nur träumen. Wir brauchen deshalb Auszubildendenwerke (Azubi-Werke) in NRW, die analog zu den Studierendenwerken Auszubildende unterstützen, damit sie sich voll und ganz auf ihre Ausbildung konzentrieren können. Ein Azubi-Werk kann für verbesserte Rahmenbedingungen und für soziale, wirtschaftliche, gesundheitliche und kulturelle Förderung sorgen. Zum Beispiel können Azubi-Werke bezahlbare Wohnungen in Azubi-Wohnheimen anbieten. Das Azubi-Werk in München etwa stellt mehr als 300 Wohnungen für Auszubildende zur Verfügung. Azubi-Werke können günstiges Essen und Kinderbetreuung anbieten oder Auszubildende bei der Beantragung von BAföG und finanzieller Unterstützung beraten.
2. Teilzeitausbildung flächendeckend ermöglichen. Viel zu oft scheitern Ausbildungen daran, dass sie nur in Vollzeit möglich sind. Im Jahr 2022 schlossen laut Statistischen Ämtern gerade einmal 0,5 Prozent aller Auszubildenden in Deutschland einen Vertrag in Teilzeit ab. Nur die wenigsten Betriebe bieten überhaupt Teilzeitausbildungen an. Zudem muss die Berufsschule bei Blockunterricht weiterhin in Vollzeit besucht werden. Insbesondere Frauen, die nach der Elternzeit wieder ins Berufsleben einsteigen wollen, nehmen häufiger daher prekäre Aushilfsjobs in Teilzeit an, statt mit einer Berufsausbildung den ersten Schritt in eine gesicherte und langfristige Anstellung zu gehen. Auch zugewanderte oder geflüchtete Menschen profitieren von Teilzeitausbildungen. Durch die Möglichkeit, zeitgleich zu ihrem Sprachkurs eine Ausbildung zu beginnen, können sie ihre Sprachkenntnisse direkt in der Praxis anwenden und vertiefen. Um mehr Teilzeitausbildungen in NRW zu ermöglichen, brauchen wir flexiblere Formen der Berufsschulbildung und wir wollen das erfolgreiche Programm „Teilzeitberufsausbildung – Einstieg begleiten – Perspektiven öffnen“ (TEP) in allen Regionen des Landes konsequent fortführen.
3. Ausbildung flexibler gestalten. Wir brauchen flexiblere Ausbildungsformen, um mehr Menschen niedrigschwellig in Arbeit zu bekommen. Für Langzeitarbeitslose, Menschen mit Behinderung oder Zuwanderungsgeschichte kann eine dreijährige Ausbildung eine hohe Hürde sein. Gleichzeitig arbeiten in vielen Unternehmen ungelernte Arbeitskräfte, die neben der Arbeit keine Zeit für eine Ausbildung haben. Eine Lösung können sogenannte Teilqualifikationen sein. Berufe werden in Segmente aufgeteilt und der Arbeitssuchende in dem Bereich ausgebildet, den er mit seinen Voraussetzungen erfüllt. Diese Mini-Ausbildung kann häufig in wenigen Monaten absolviert werden. Und wer alle Segmente eines Berufs schafft, kann am Ende die vollständige Berufsprüfung absolvieren. So werden aus ungelernten Arbeitern ausgebildete Fachkräfte und Arbeitslose können schnell und nachhaltig in den Arbeitsmarkt integriert werden. Wir wollen deshalb die IHKen und die Handwerkskammern in NRW dabei unterstützen, mehr Teilqualifikationen anzubieten und das Angebot flächendeckend auszubauen.
4. Berufsbildungszentren digitalisieren und modern ausstatten. Berufsbildungsstätten sind zentrale Orte des Lernens, insbesondere im Handwerk für eine qualifizierte Aus- und Weiterbildung und die Meisterqualifizierung. Wir brauchen Handwerkerinnen und Handwerker, die sich auf dem neuesten Stand der Technik auskennen. Zum Beispiel sollten die heute ausgebildeten SHK (Sanitär-Heizung- und Klimatechnik) -Azubis an modernen Wärmepumpen lernen können. Dafür müssen die Berufsbildungszentren modern gestaltet und gut ausgestattet sein. Viel zu oft sind Lehrbücher veraltet oder moderne Technik ist nicht vorhanden. Berufsbildungszentren sollten zudem flächendeckend erreichbar sein. Häufig werden Kurse zusammengelegt oder mangels Anmeldungen ganz gestrichen. Das hat für manche Azubis weite Wege zur Folge. Azubis sollten nicht für mehrere Wochen täglich zwei Stunden zum nächsten Bildungszentrum pendeln müssen. Hybride Bildungsangebote können da helfen.
5. Berufliche Bildung an allen Schulen und Hochschulen bekannt machen. Häufig sind junge Menschen über die Möglichkeiten beruflicher und akademischer Bildungswege nicht ausreichend informiert. Um ihnen alle Wege der beruflichen Bildung offen zu halten, bedarf es einer schulform-unabhängigen und vollumfänglichen Beratung zu Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten. Ebenso sind an Hochschulen manche Studierende nicht zufrieden mit dem eingeschlagenen akademischen Weg und wünschen sich eine Umorientierung. Junge Menschen sollten die Chance haben, ihre eigenen Stärken und Interessen und die dafür passenden Ausbildungen und Berufe besser kennenzulernen. Es braucht eine frühzeitige Beratung und Begleitung, ausgerichtet an den Kompetenzen, Fähigkeiten und Interessen des und der Einzelnen. Manche brauchen gezielte Unterstützung und Beratung im Bewerbungsprozess. Einrichtungen, die diese wichtige Arbeit leisten, gilt es weiter zu stärken.
6. Ausbildung attraktiver machen. Durch die Ermöglichung von Auslandspraktika über Erasmus+ sowie weitere Anreize wie dem ermäßigten Deutschlandticket werden Ausbildungsberufe wieder attraktiver. Auch führen Anerkennung und Motivation sowie finanzielle Anreize im Betrieb zu erhöhtem Interesse bei den Auszubildenden.
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