Beschluss des Landesvorstands vom 02.12.2020
Die Corona-Pandemie ist die erste ihrer Art. Niemand kann sicher voraussagen, wie sich die Infektionszahlen in den kommenden Monaten entwickeln werden und welche Maßnahmen noch erforderlich sein werden. Viele Entscheidungen werden zwangsläufig unter großer Unsicherheit getroffen. Die gute Nachricht ist: Die allermeisten Bürger*innen bringen in dieser Situation den staatlichen Institutionen und ihren Entscheidungen großes Vertrauen entgegen. Damit dies so bleibt, muss staatliches Handeln aber transparent, plausibel, zielgerichtet und wirksam sein.
Deshalb ist es jetzt so wichtig, verlässliche Perspektiven zu schaffen, die über die Zeit weniger Wochen hinaus gehen. Aus dem Prinzip Hoffnung muss das Prinzip Vorsorge werden. Denn so sehr vieles unklar ist, -so stehen einige Entwicklungen schon jetzt fest – und bedürfen klarer politischer Lösungen:
- Eine Rückkehr in die „neue Normalität“ des vergangenen Sommers ist in diesem Winter nicht denkbar, vielmehr müssen wir weiter mit Infektionszahlen auf einem hohen Niveau und einer hohen Zahl an schweren Krankheitsverläufen rechnen.
- Viele Einrichtungen werden im Rahmen der Pandemie-Bekämpfung weiter mit gravierenden Einschränkungen rechnen müssen.
- Gleichzeitig gilt es, nicht nur eine gigantische Impflogistik zu organisieren, sondern vor allem fundamentale Entscheidungen über den Zugang zu den schützenden, vorerst knappen Impfungen zu treffen.
- Je länger die Pandemie andauert, desto intensiver wird die gesamtgesellschaftliche Debatte über angemessene Maßnahmen. Gleichzeitig erwartet uns eine zunehmende „Katastrophenmüdigkeit“ in dieser und der nächsten Phase der Pandemie. Wir brauchen Strategien, um auch langfristig Akzeptanz für die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie in der Bevölkerung zu erhalten und zu fördern und einer gesellschaftlichen Spaltung entgegenzuwirken.
Vulnerable Personen(gruppen) besser schützen
Es geht darum Menschen aus Risikogruppen einerseits besser zu schützen, andererseits aber soziale Nähe innerhalb der Einrichtungen zu ermöglichen. Deshalb fordern wir einen Anspruch auf hochwertiges Schutzmaterial für alle in Kliniken und Pflegeeinrichtungen betreuten, behandelten oder untergebrachten Personen sowie für alle Besucher*innen.. Das muss Personen umfassen, die in Unterkünften für Asylsuchende, in Einrichtungen der Behindertenpflege und weiteren leben. Personen außerhalb von Einrichtungen, die ein erhöhtes Gesundheitsrisiko nach einer Corona-Infektion haben, etwa aufgrund ihres Alters oder einer Vorerkrankung, müssen ebenfalls besser geschützt werden. Dazu gehören beispielsweise die kostenfreie Ausstattung mit FFP2-Masken, ein Anspruch auf home-office und weitere Maßnahmen. Menschen in Krisensituationen brauchen Unterstützung, damit alle, die Hilfe brauchen, auch Hilfe finden. Hilfsangebote für Menschen in Krisensituationen („Shutdown-Depression, Hilfsangebote für Frauen, etc.) müssen finanziell unterstützt werden. Sammelunterkünfte für Geflüchtete müssen geschlossen und den in ihnen lebenden Menschen auf dezentrale Unterbringungsmöglichkeiten angeboten werden.
Gesundheitsnotstand verhindern – Krankenhäuser unterstützen
Im Frühjahr war es Konsens, dass eine Überlastung der Gesundheitsinfrastruktur – und damit die Gefahr, dass Menschen nicht oder nicht adäquat behandelt werden können – verhindert werden muss. Dies muss auch die Richtschnur für diese zweite und mögliche weitere Pandemiewellen sein. Die Situationen auf den Intensivstationen spitzt sich nun aber immer weiter zu, eine Entlastung ist nicht in Sicht. Selbst wenn die Infektionszahlen weiter langsam sinken, wird sich das erstmal kaum positiv auf die Versorgung mit Intensivplätzen auswirken. Denn wer heute auf die Intensivstation kommt, hat sich vor zwei bis drei Wochen angesteckt. Es wird absehbar an Betten sowie am Personal mangeln. Die Menschen brauchen aber die Sicherheit, dass sie in ihrer Region ausreichend Intensivkapazität für Notfälle vorfinden. Es ist höchste Zeit, dass das Land NRW die Koordinierung der Intensivkapazitäten für Krankenhäuser besonders betroffener Regionen übernimmt. Städtetag und Landkreistag fordern schon seit Anfang November ein überörtliches Belegungsmanagement von der Landesregierung – passiert ist bisher nichts. Geplante Eingriffe müssen in einem gesteuerten Prozess verschoben werden, wo es regional nötig ist. Es ist jetzt nötig, die Aufschiebung elektiver, also verschiebbarerer Eingriffe und Operationen anzuordnen. Dass den Krankenhäusern dadurch entgangene Einnahmen erstattet werden müssen, erklärt sich von selbst. Ebenso unstrittig ist, dass die strukturellen Fehlanreize zur Belegung von Intensivbetten in unserem Gesundheitssystem behoben werden müssen, damit wir besser auf neuerliche Krisen vorbereitet sind.
Wir brauchen zudem dringend eine Entlastung der Pflegekräfte, insbesondere in der Intensivpflege. Dazu braucht es ein Anreizprogramm zum Wiedereinstieg ausgebildeter Fachkräfte in den Beruf sowie die Anwerbung zusätzlichen Personals zur Verwaltungsunterstützung, etwa zur Dokumentation und Übermittlung von Testungsergebnissen.
Infektionswege nachvollziehbar machen
Die Digitalisierung gibt uns wertvolle Möglichkeiten, die Pandemie beherrschbar zu machen und Infektionswege nachzuvollziehen. Längst stehen die digitalen Werkzeuge zur Verfügung, um einheitlich Testtermine zu vergeben, Ergebnisse zu erfassen und Daten sicher zu übermitteln. Vielerorts sind die Gesundheitsämter nach wie vor auf selbst entwickelte, mehr oder weniger improvisierte Lösungen angewiesen. Bund und Länder müssen endlich nachholen, was über den Sommer verschlafen wurde: die Gesundheitsämter dabei unterstützen, eine einheitliche Software einführen. Die Corona-App muss weiterentwickelt werden, so dass Nutzer*innen per QR-Codes in Restaurant und andere Einrichtungen einchecken und auch private Zusammenkünfte datensicher in der App erfassen können.
Impfprioritäten transparent festlegen – gemeinsam, parlamentarisch
Forschung, Zusammenarbeit und Unternehmer*innengeist haben innerhalb weniger Monate vielversprechende Impfstoffe hervorgebracht – jetzt stehen NRW und Deutschland vor der Aufgabe, den Impfstoff zu verteilen. Neben den logistischen Herausforderungen stehen wir aber auch vor großen ethisch-politischen Fragen – wer wird zuerst mit dem knappen Impfstoff geimpft, wer zuletzt? Hierfür brauchen wir Antworten, die von einer breiten gesellschaftlichen Mehrheit getragen werden. Dafür braucht es eine parlamentarische Befassung, in der Bundestag und die Länderparlamente Leitlinien für eine Priorisierung debattieren und beschließen. Eine Impfpflicht, auch für einzelne Gruppen, lehnen wir ab. Zu einer erfolgreichen Impfstrategie gehört mehr als die Operationalisierung des Impf-Vorgangs. Vor allem muss mithilfe umfassender, leicht nachvollziehbarer Aufklärung zum Impfstoff und seiner Wirkweise für Akzeptanz geworben werden.
Schulen und Kitas zu sicheren Orten machen
In der Schulpolitik hat sich die Landesregierung in einen Tunnel begeben. Ministerin Gebauer hört nur noch die eigene Stimme, die dafür sehr laut. Die ideologisch motivierte Weigerung, Wechsel zwischen Präsenz- und Distanzunterricht zu ermöglichen, wie es etwa das Solinger Modell vorsieht, ist fahrlässig. Dadurch werden immer mehr Schüler*innen in die Quarantäne gezwungen, und Schulen und Lehrkräfte im Stich gelassen. Wer Schulen zu sicheren Lernorten machen will, muss bereit für vorausschauende Planung, innovative Ideen und entschiedenes Handeln sein. Seit Monaten werden jedoch nahezu alle Vorschläge der Opposition sowie der Vertreter*innen von Schulen, Eltern, Gewerkschaften und Kommunen von der Schulministerin ignoriert. Wir wollen, dass möglichst viele Schüler*innen möglichst viel Unterricht erleben können. Dafür braucht es jahrgangsbezogen differenzierte Modelle, die die Teilung von Klassen möglich machen. Andere Länder wie Hessen und Niedersachsen ermöglichen diese längst. Die vom stellvertretenden Ministerpräsidenten Joachim Stamp gebetsmühlenartig wiederholte Bildungs- und Betreuungsgarantie ist nichts wert, wenn die Landesregierung sich weiterhin verweigert, einen Plan B für Schulen und Kitas auf den Weg zu bringen. Diesen haben wir mehrfach mit konkreten Vorschlägen gefordert – und werden dies auch weiterhin tun.
Mittel für Betroffene unbürokratisch bereitstellen und auszahlen
Gastronomie, Kultur und Veranstaltungsbranche leiden besonders unter den aktuell notwendigen Maßnahmen. Unter der Schließung der Gastronomie, abgesagten Veranstaltungen und dem in der Pandemie boomenden Onlinehandel leidet auch der Einzelhandel vor Ort.
Wir müssen alles tun um zu verhindern, dass Bühnen geschlossen werden, Gastronom*innen aufgeben und Stadt- und Ortskerne weiter an Attraktivität verlieren. Unternehmer*innen und ihre Mitarbeiter*innen bringen der Gesellschaft aktuell sehr hohe Solidarität entgegen – es ist längst an der Zeit, dass die Allgemeinheit solidarisch mit der Branche umgeht. Soloselbstständige verdienen ein echtes Existenzgeld von 1.200 Euro im Monat. Und es braucht jetzt schon Perspektiven für Wiedereröffnungen: Das Land soll mit einer Studie zu Lüftungsanlagen dafür sorgen, dass deren Wirksamkeit belegt wird und dabei hilft, wirksame Produkte zu zertifizieren. Und das Land muss den Kommunen Mittel zur Verfügung stellen, damit sie der Kultur vor Ort Starthilfe geben können, sobald Öffnungen möglich sind.
Transparenz, Dialog und Bürger*innenrat
Je länger die Pandemie andauert, je mehr Menschen erkranken oder versterben oder Opfer für ihre Bekämpfung bringen müssen – desto intensiver wird die gesamtgesellschaftliche Debatte über angemessene Maßnahmen. Diese Debatte ist grundsätzlich wertvoll, denn sie verbessert demokratische Entscheidungsfindung und sorgt dafür, dass Regierungen und Parlamente ihre Entscheidungen darlegen und rechtfertigen müssen. Aber gleichzeitig wissen wir aus der Vergangenheit, dass Krisen auch tiefe gesellschaftliche Gräben ziehen können. Und nicht zuletzt bleibt die Herausforderung der Katastrophenmüdigkeit: Wenn permanent Katastrophenmeldungen auf uns einprasseln, verlieren diese an Relevanz und die Aufmerksamkeit und Akzeptanz für Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie nimmt ab.
Wir wollen wir den gesellschaftlichen Dialog in dieser Krise erneuern. Um die Erfahrungen, Perspektiven und Lebenswelten der Bürgerinnen und Bürger in die Maßnahmen rund um Corona einzubeziehen, sollen das Land NRW und der Bund zufallsgeloste Corona-Bürger*innenräte nach dem Vorbild Baden-Württembergs durchführen. So bekommen auch die Gehör, deren Stimmen leise sind – aber nicht weniger relevant, um gemeinsam durch die Krise zu kommen.
Gleichzeitig brauchen wir eine klare Abgrenzung zu antidemokratischen Beiträgen im gesellschaftlichen Diskurs. Aktuell verbreiten sich Verschwörungsmythen, angefeuert von rechtsextremen Gruppen, immer schneller. Gewaltaufrufe, Nötigungen und Schmähungen aus diesem Milieu nehmen zu. Als demokratische Parteien sind wir in der Pflicht, uns glasklar von dieser Bewegung abzugrenzen und die demokratischen Institutionen vor ihren Angriffen zu verteidigen.
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