Verschwörungsmythen

12-Punkte-Plan gegen Verschwörungsmythen

Ein Autorinnenpapier von Mona Neubaur und Verena Schäffer.

Verschwörungsmythen sind eine Gefahr für unseren demokratischen Rechtsstaat und für alle hier lebenden Menschen, insbesondere für Angehörige gesellschaftlicher Minderheiten. Schon vor der Corona-Pandemie zeigten wissenschaftliche Studien, dass Menschen, die zu Verschwörungsmythen tendieren, eher dem demokratischen System misstrauen, eine höhere Gewaltbereitschaft und Gewaltakzeptanz haben sowie häufiger menschenverachtende Einstellungen wie Antisemitismus, Islamfeindlichkeit, Rassismus, Antiziganismus und Flüchtlingsfeindlichkeit vertreten.[1] Einer aktuellen Studie des Center für Monitoring, Analyse und Strategie gGmbH (CeMAS) zufolge glaubt etwa die Hälfte der Personen mit hoher Bereitschaft zum Protest gegen die Corona-Schutzmaßnahmen an Verschwörungsmythen. Zudem sind mehr als ein Drittel des Corona-Protest-Spektrums der Meinung, dass die Corona-Schutzmaßnahmen mit dem Nationalsozialismus vergleichbar seien.[2]

Die Folgen dieser zunehmenden Verbreitung von Verschwörungsnarrativen haben sich in den zwei Jahren der Corona-Pandemie deutlich gezeigt. Der Versuch von mehreren Hundert Personen im August 2020, in den Bundestag einzudringen, Ausschreitungen und Angriffe gegen Polizeibeamt*innen bei mehreren Versammlungen und nicht zuletzt der Mord an einem Tankstellen-Mitarbeiter in Idar-Oberstein bilden jeweils die Spitzen der voranschreitenden Radikalisierung des verschwörungsideologisch geprägten Corona-Protest-Spektrums.

Bereits in den ersten Wochen der Pandemie bildete sich eine heterogene Gruppe von verunsicherten Bürger*innen, Impfgegner*innen, Esoteriker*innen, Reichsbürger*innen, Anhänger*innen der sogenannten Neuen Rechten und neonazistischen Gruppierungen, die gegen die Corona-Schutzmaßnahmen protestierten. Im Laufe der Zeit hat sich dieses Protest-Spektrum immer wieder verändert und vor allem weiter radikalisiert. Nach Einschätzungen von Expert*innen versteht sich dieses von außen heterogen erscheinende Protest-Spektrum als gemeinsame Bewegung. In diesem Protest-Spektrum wurden Strukturen aufgebaut, über die auch nach der Pandemie zu anderen Themen mobilisiert werden können. Das zeigt sich zurzeit an der Art und Weise, wie der Angriffskrieg gegen die Ukraine im Corona-Protest-Spektrum thematisiert wird. Er wird verschwörungsideologisch gedeutet als Mittel, um eine „neue Weltordnung“ zu schaffen, wobei Pro-Putin-Positionen in diesem Spektrum weit verbreitet sind. Gegenüber den Demonstrationen gegen den Krieg wird Unverständnis geäußert, da man in den Corona-Schutzmaßnahmen die größere Gefahr sieht.

Die Versammlungsfreiheit ist ein zentraler Pfeiler unseres Rechtstaates. Versammlungen sind ein wichtiger Bestandteil der Meinungs- und Willensbildung. Jede und jeder darf in unserer Demokratie an Versammlungen teilnehmen und ihre oder seine politische Meinung öffentlich kundtun. Das ist das Wesen eines demokratischen Rechtsstaates. Wir GRÜNE werden uns weiterhin für den Schutz der Versammlungsfreiheit einsetzen. Ebenso werden wir GRÜNE weiterhin demokratiegefährdende Entwicklungen und Proteste klar benennen.

Die Versammlungen aus dem Corona-Protest-Spektrum sind geprägt von einem Verschwörungsdenken, das altbekannte antisemitische Verschwörungsmythen reproduziert und mit neuen rassistischen Narrativen verbindet. Eine Abgrenzung zum Rechtsextremismus findet in der Regel nicht statt. Der NRW-Verfassungsschutz geht von einem Anteil von bis zehn Prozent Rechtsextremen bei den Versammlungen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen aus. Nahezu das gesamte rechtsextreme Spektrum mobilisiert derzeit zu den Versammlungen der sogenannten Corona-Leugner*innen und Impfgegner*innen. In einigen Fällen übernehmen Rechtsextreme Funktionen in der Anmeldung und Organisation von Versammlungen und halten Redebeiträge. Damit bedienen sie sich einer lange bekannten und genutzten Strategie des Rechtsextremismus – auf aktuelle gesellschaftliche Konflikte aufzusatteln und so die eigene Ideologie zu verbreiten. Darüber hinaus sind Verschwörungsmythen ohnehin Teil rechtsextremer Ideologie. Die verschwörungsideologischen Narrative des „Großen Austauschs“, also der angebliche Plan, die Bevölkerung durch Geflüchtete zu ersetzen, waren Motive für mehrere rechtsterroristische Anschläge, wie z.B. in Halle, Hanau und München. Das unterstreicht die Gefahr der aktuellen Verbreitung von Verschwörungsmythen bei gleichzeitig fehlender Abgrenzung zum Rechtsextremismus.

Im Laufe der Zeit ist die Gewaltbereitschaft der sogenannten Corona-Leugner*innen deutlich gestiegen. Medienrecherchen zufolge werden täglich Tötungsaufrufe in Telegram-Chats gepostet, die sich vor allem gegen Personen aus Politik, Wissenschaft, Medien, Medizin und Behörden richten. Ärtz*innen, Journalist*innen und Politiker*innen werden auch in Nordrhein-Westfalen immer häufiger bedroht und angegriffen. Aktuelle Zahlen zu politisch motivierten Straftaten im Zusammenhang mit Corona zeigen deutlich, dass der Blick allein auf das Versammlungsgeschehen unzureichend ist. Bis zum 1. März 2022 wurden in Nordrhein-Westfalen mehr als 2.000 politisch motivierte Straftaten verzeichnet, 884 davon richteten sich gegen Einzelpersonen oder Personengruppen. Statistisch gesehen wurde also an jedem Tag mehr als eine solche Straftat verübt, die sich gegen Menschen richtet. Diese Gefährdungslage muss ernstgenommen werden und Betroffene müssen Unterstützung und Hilfe erhalten.

Wir wissen, dass Verschwörungsmythen weit vor der Pandemie in unserer Gesellschaft verbreitet waren und sie werden auch nach der Pandemie nicht verschwinden. Deshalb brauchen wir stärkere Auseinandersetzung mit Verschwörungsmythen.

Wir GRÜNE werden sowohl den Schutz von potenziell Betroffenen sicherstellen als auch eine Gesamtstrategie zur Aufklärung und Prävention gegen Verschwörungsmythen auflegen. Zu unserem Zwölf-Punkte-Plan gehören:

  1. Gesamtkonzept gegen Verschwörungsmythen: Der Glaube an Verschwörungsmythen wird nach Ende der Pandemie nicht von allein enden. Wir wissen um die Gefahr, die von solchen Verschwörungsmythen ausgehen, insbesondere wenn sie verknüpft sind mit rassistischen und antisemitischen Narrativen. Deshalb werden wir eine ressortübergreifende Arbeitsgruppe in der Landesregierung einrichten, die die Maßnahmen gegen Verschwörungsmythen der Landesregierung koordiniert und für einen Austausch unter den zuständigen Ministerien (v.a. Innen, Justiz, Bildung, Wissenschaft, Landeszentrale für politische Bildung) sorgt.
  2. Schutz von Betroffenen: Die Sicherheitsbehörden müssen potenziell Betroffene informieren und schützen: Personen und Einrichtungen, gegen die konkrete Drohungen ausgesprochen wurden bzw. die im Fokus der sogenannten Corona-Leugner*innen stehen, müssen über die Gefahrenlage informiert werden, damit sie ggf. Unterstützung durch die Polizei in Anspruch nehmen können. Bei Versammlungen muss die freie Berichterstattung sichergestellt werden, indem Journalist*innen besser geschützt werden (z.B. durch abgetrennte Pressebereiche oder Begleitung von Polizeibeamt*innen).
  3. Konsequente Verfolgung von Straftaten und Auflagenverstößen: Es ist wichtig, dass sowohl Straftaten ohne Bezug zu Versammlungen als auch Verstöße gegen Auflagen und andere Straftaten bei Versammlungen konsequent verfolgt werden. Das ist ohnehin immer geboten. Zudem ist es ein Signal an das Corona-Protest-Spektrum, dass solche Taten Konsequenzen haben.
  4. Austausch der Sicherheitsbehörden zu Versammlungslagen und Auflagen: Das Innenministerium muss einen fortlaufenden Austausch mit den Kreispolizeibehörden zur Einschätzung der Lageentwicklung und zu möglichen Auflagen führen und dabei sowohl aktuelle rechtliche Einschätzungen (z.B. Untersagung des gelben Sterns mit der Ausschrift „Ungeimpft“) als auch Erfahrungen zum Versammlungsgeschehen der örtlichen Kreispolizeibehörden einbeziehen.
  5. Austausch zwischen Polizei und zivilgesellschaftlichen Expert*innen: Für die Polizei war es in den vergangenen Wochen oftmals schwierig, vor Ort einzuschätzen, wie groß Versammlungen von Corona-Leugner*innen werden. Einen wichtigen Erkenntnisgewinn – für beide Seiten – kann es durch den Austausch von Expert*innen zu Verschwörungsmythen und Rechtsextremismus vor Ort mit den Kreispolizeibehörden geben. Mit den Mobilen Beratungsteams gegen Rechtsextremismus gibt es seit vielen Jahren einen Austausch sowohl auf Ebene des LKA NRW als auch mit den Staatsschutzstellen der Polizei. Ein angesichts der aktuellen Lage intensivierter regelmäßiger Austausch mit Expert*innen aus der Zivilgesellschaft auch zum Thema Corona-Protest-Spektrum wäre sinnvoll.
  6. Analysefähigkeit der Sicherheitsbehörden: Es ist eine große Herausforderung für die Sicherheitsbehörden, die immense Zahl an Äußerungen in sozialen Medien zu überblicken. Darunter befinden sich aber eine große Zahl an Gewaltaufrufen, die eine ernsthafte Gefahr für die Betroffenen darstellen können. Deshalb ist es wichtig, mehr Ressourcen für das Monitoring der offenen Internet-Kommunikation bereit zu halten.
  7. Verschwörungsmythen in Fortbildungen: Beispielsweise in den Bereichen Polizei, Justiz, Schule und Sozialarbeit können Mitarbeiter*innen konfrontiert sein mit Personen, die an Verschwörungsmythen glauben. Sie müssen darin gestärkt werden, solche Einstellungen zu erkennen, einzuordnen und zu intervenieren.
  8. Neues Beratungsangebot für Angehörige von Verschwörungsgläubigen: Es ist eine enorme Belastung, wenn die eigene Mutter, der beste Freund oder die Arbeitskollegin an Verschwörungsmythen glauben. Gleichzeitig sind Verwandte, Freundinnen und Freunde oft die einzigen Personen, die noch Zugänge zu den Verschwörungsgläubigen finden und damit möglicherweise auch ein Umdenken anregen können. In NRW gibt es eine gut vernetzte Beratungsstruktur im Bereich Rechtsextremismus, den Verein Sekteninfo NRW und weitere Einrichtungen, die in ihrer alltäglichen Arbeit nicht allein auf Verschwörungsmythen fokussiert sind, aber Unterstützung zu dem Thema anbieten. Da der Bedarf enorm hoch ist, was sich an den inzwischen gegründeten Selbsthilfegruppen zeigt, werden wir mit Hilfe der bestehenden Expertise ein ergänzendes Beratungsangebot aufbauen.
  9. Stärkung der Beratungsstellen gegen Rechtsextremismus: Auch ohne die pandemiebedingte Verbreitung von Verschwörungsmythen, gibt es einen erhöhten Beratungsbedarf in der Arbeit gegen Rechtsextremismus. Die Fallzahl im Jahr 2020 der Mobilen Beratung hat sich im Vergleich zur Fallzahl im Jahr 2014 um 102 Prozent erhöht. Bei der Opferberatung betrug der Zuwachs im selben Zeitraum 25 Prozent. Absehbar ist, dass die enge Verzahnung von Verschwörungsmythen und rechtsextremer Ideologie die Beratungsstruktur im Bereich Rechtsextremismus langfristig beschäftigen wird. Das Themenfeld ist von einer hohen Dynamisierung und Ausdifferenzierung geprägt. Eine finanzielle Aufstockung und dauerhafte Absicherung dieser Beratungsstellen ist dringend notwendig. Dafür werden wir GRÜNE sorgen.
  10. Angebote der politischen Bildung zu aktuellen Verschwörungsmythen: Die Entwicklungen in den vergangenen zwei Jahren machen deutlich, dass das Angebot zu Verschwörungsmythen und Desinformation ausgeweitet und neu auftretende Verschwörungsmythen stärker in den Blick genommen werden müssen. Die Angebote der Landeszentrale für politische Bildung und der Landesanstalt für Medien zu Medienkompetenz und digitaler Demokratiekompetenz, die von Faktenchecks über Schulungen bis zum Selbstcheck reichen, müssen mit Fokus auf Fake News und Verschwörungsmythen gestärkt werden. Auf Kinder und Jugendliche zugeschnittene Angebote sind auch bei diesem Thema wichtig. Die politische Bildung darf sich jedoch nicht allein auf Kinder und Jugendliche konzentrieren. Ein Schwerpunkt muss in der Erwachsenenbildung liegen, zum Beispiel mit Medienkompetenzschulungen.
  11. Forschung zu Verschwörungsmythen: Das Phänomen Verschwörungsmythen wird erst seit der Corona-Pandemie gesellschaftlich breit diskutiert. Die Wissenschaft hat sich glücklicherweise schon vorher mit dem Phänomen auseinandergesetzt. Von diesem Wissen können wir heute profitieren. Wir GRÜNE werden die Forschung weiter ausbauen und vor allem in die praxisorientierte Forschung investieren, die uns Erkenntnisse über die Gestaltung von weiteren Gegenmaßnahmen zur Verfügung stellen kann. Zusätzlich kann eine Plattform, auf der vorliegende Informationen gebündelt und Anlaufstellen genannt werden, hilfreich sein.
  12. NRW-Monitor: Wir werden regelmäßig wissenschaftliche Studien über die Verbreitung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in NRW sowie über aktuelle Phänomene im Bereich Rechtsextremismus auflegen. Aus diesen Analysen können Maßnahmen gegen Rechtsextremismus entwickelt werden, die auch der Verbreitung von Verschwörungsmythen entgegensteuern.

Das Papier lässt sich hier als pdf downloaden.

 

[1] FES-Studie „Verlorene Mitte – Feindselige Zustände“, 2018/19

[2] CEMAS-Studie „Das Protestpotential während der COVID-19-Pandemie“, 17.02.2022

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