Statut für eine vielfältige Partei


I. Präambel

Die Vielfalt unserer Partei ist unsere Stärke. Wir teilen politische Macht und verstehen uns als Bündnispartei, die auf der Grundlage gemeinsamer Überzeugungen offen ist für unterschiedliche Erfahrungen, Vorstellungen und Ansätze. Unsere Politik hat das Ziel, gemeinsam mit einer starken Zivilgesellschaft die gleichberechtigte Teilhabe Aller zu erkämpfen und diskriminierende Strukturen zu überwinden. Wir sind auf vielfältiges biographisches Erfahrungswissen und vielfältige Perspektiven angewiesen, um als Partei umfassende Antworten auf Fragen zu finden, die uns als gesamte Gesellschaft betreffen.

Am Beginn politischer Veränderung steht die Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse. Nordrhein-Westfalen lebt seit Jahrzehnten von Einwanderung und wird von Einwanderer*innen und ihren Nachkommen geprägt. Trotzdem sind rassistische Ausgrenzung und Diskriminierung an der Tagesordnung und gleichberechtigte politische und gesellschaftliche Teilhabe – etwa der gleichberechtigte Zugang zu Bildung, Arbeit und anderen Aspekten des Alltagslebens – steht weiter aus. Vieles hat sich in unserer Gesellschaft in den letzten Jahren in gemeinsamer Initiative mit Akteur*innen aus der Zivilgesellschaft und mit unserer Unterstützung zum Positiven verändert: bei der Gleichstellung der Geschlechter, beim Staatsangehörigkeitsrecht, bei der Ehe für alle oder bei der Inklusion. Doch trotz dieser unbestreitbaren Fortschritte sind nach wie vor große gesellschaftliche Gruppen unterrepräsentiert, ist das Bildungssystem noch immer nicht so, dass alle Kinder die gleichen Startchancen haben, gibt es soziale Barrieren, fehlenden Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe und Infrastruktur.
Unser Leitbild ist die Gesellschaft der Vielen in einer pluralen Demokratie. Pluralität anzuerkennen und zu leben, bedeutet nicht, relativistisch gegenüber Haltungen und Positionierungen zu sein, die mit den grünen Werten von Selbstbestimmung, Freiheit und Demokratie nicht in Einklang stehen. Wir wollen, dass alle mit am Tisch sitzen und mit entscheiden. Dabei wissen wir, dass die Anerkennung von Vielfalt mit herausfordernden Aushandlungsprozessen verbunden ist, die wir auf Grundlage unserer Werte führen.
Diesem Selbstverständnis nach ist es unser Anspruch, dass bei uns alle Menschen, die unsere Werte und Ziele teilen, die Möglichkeit haben, sich gleichberechtigt einzubringen, ihre Interessen zu vertreten und ihre Themen zu repräsentieren – ohne Barrieren, Hürden oder Vorurteile. Diese wollen wir in unseren Parteistrukturen finden und einreißen. Dazu gehört auch, unsichtbare, ausschließende Strukturen sichtbar zu machen. Wir wollen überwinden und den Zugang zu gleichberechtigter politischer Teilhabe gewährleisten.

Unser Ziel ist Zusammenhalt in Vielfalt. Wir wollen, dass sich vielfältige Perspektiven in unserer Partei abbilden. Die Repräsentation von gesellschaftlich diskriminierten oder benachteiligten Gruppen mindestens gemäß ihrem gesellschaftlichen Anteil auf der jeweiligen Ebene ist unser Ziel. Viele Menschen sind jedoch aufgrund von gesellschaftlichen Verhältnissen strukturell von Ungleichbehandlung betroffen.

Deswegen setzen wir es uns zur Aufgabe, unsere Strukturen so zu gestalten, dass sie in Bezug auf Geschlecht, eine rassistische, antisemitische oder antiziganistische Zuschreibung, die Religion und Weltanschauung, eine Behinderung oder Erkrankung, das Lebensalter, die Sprache, die sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität, den sozialen oder Bildungsstatus oder die Herkunft inklusiv und nicht-diskriminierend wirken.

Wir stellen uns Diskriminierung auch innerhalb unserer Partei entschlossen entgegen. Durch kritische Selbstreflexion auf allen Ebenen wollen wir Wissen und Bewusstsein über bestehende oder mögliche Diskriminierungsmechanismen – gerade auch mehr-dimensional wirkende – in unserer Partei verankern und diese Mechanismen abbauen. Diskriminierungsfälle innerhalb grüner Strukturen werden wir aktiv bearbeiten und Betroffene vor Diskriminierung und Rassismus schützen.
Dafür sind wir auf die Erfahrungen und Expertise der Parteimitglieder, die eigene Diskriminierungserfahrungen haben, angewiesen.

Wir etablieren und stärken innerhalb unserer Strukturen geschützte Räume, in denen gerade Menschen mit Diskriminierungserfahrungen sich austauschen,
vernetzen und gegenseitig stärken können, und stellen dafür Ressourcen zur Verfügung.

Politische Teilhabe darf nicht vom Einkommen, dem Bildungsabschluss oder der Lebenssituation abhängen. Unsere Strukturen wollen wir so gestalten, dass sie für alle verständlich, zugänglich und durchlässig sind.

Wir wollen dabei einen expliziten Fokus auf Menschen setzen, die Diskriminierung aufgrund rassistischer Zuschreibung erfahren, da hier sowohl gesamtgesellschaftlich als auch in unserer Partei besonderer Handlungsbedarf besteht.

Durch solidarische Bündnisse unterstützen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NRW Vertretungen diskriminierter Gruppen und ihr zivilgesellschaftliches Engagement.

Alle Untergliederungen und Teilorganisationen sowie Gremien und Versammlungen sind dazu angehalten, diese Ziele zu achten und zu stärken.

§ 1 Repräsentation

(1) Wir wollen, dass sich vielfältige Perspektiven in unserer Partei abbilden.
Die Repräsentation von gesellschaftlich diskriminierten oder benachteiligten
Gruppen mindestens gemäß ihrem gesellschaftlichen Anteil auf der jeweiligen
Ebene und bei der Besetzung von Ämtern, Gremien und Kandidaturen für Mandaten
ist unser Ziel.

(2) Der Landesvorstand und der Landesdiversitätsrat werden alle zwei Jahre eine
wissenschaftlich fundierte Evaluierung zur Zusammensetzung der Funktionär*innen,
Parlamentarier*innen, Delegierten und Angestellten auf Landes-, Bezirks- und
Kreisverbandsebene durchführen. Dabei soll dargestellt werden, inwiefern sich
die Vielfalt der Gesellschaft in der Zusammensetzung der Befragten widerspiegelt
und welche Diskriminierungserfahrungen es gibt. Ein Bericht dazu wird alle zwei
Jahre auf der LDK vorgestellt und diskutiert.

(3) Der Landesdiversitätsrat und der Landesvorstand werden auf Grundlage der
Ergebnisse der Evaluierungen Instrumente, wie etwa Diversity-Trainings, Quoten
oder Empowerment- Maßnahmen, diskutieren, entwickeln und umsetzen um dem in
Absatz 1 genannten Ziel näher zu kommen.

§ 2 Versammlungen

(1) Präsidien werden divers besetzt, das bedeutet, dass sie die
gesellschaftliche Vielfalt widerspiegeln.

(2) Bei Veranstaltungen, die von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NRW organisiert werden,
sollen die Referent*innen die Vielfalt der Gesellschaft widerspiegeln.

(3) Alle Veranstaltungen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NRW sollen grundsätzlich
barrierefrei gestaltet sein. Näheres regelt der Leitfaden für Inklusion bei
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

(4) Tagungszeiten und -räume sollen nicht sozial ausschließen.

§ 3 Einstellung von Arbeitnehmer*innen

(1) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NRW verpflichtet sich als Arbeitgeber*in dem
Vielfaltsstatut und der Stärkung von Menschen, die diskriminierten Gruppen
angehören. Bei bezahlten Stellen soll sich auf allen Qualifikationsebenen die
gesellschaftliche Vielfalt widerspiegeln.

(2) Dazu sind Stellenausschreibungen und ihre Verbreitung so zu gestalten, dass
sie den Zielen des Vielfaltsstatuts entsprechen und Menschen, die
diskriminierten Gruppen angehören, besonders ansprechen.

(3) In Bereichen, in denen Menschen, die diskriminierten Gruppen angehören,
unterrepräsentiert sind, werden diese bei Einstellungen bei gleicher Kompetenz
bevorzugt.

(4) Bei der Zusammenarbeit mit Partner*innen und Dienstleister*innen wird darauf
geachtet, dass diese diskriminierungsfrei arbeiten.

§ 4 Empowerment und Weiterbildung

(1) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NRW schafft Angebote zum Empowerment von
diskriminierten oder in der Partei unterrepräsentierten Gruppen.

(2) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NRW schafft Angebote für die diversitätspolitische und
diskriminierungskritische Aus- und Weiterbildung der Amtsträger*innen und
Führungskräfte der Partei.

(3) Der Landesverband stellt für diese Aufgaben ausreichend Mittel und
Personalressourcen zur Verfügung. Der Landesvorstand stellt dies sicher.

II. Innerparteiliche Strukturen

§ 5 Landesdiversitätsrat

(1) Der Landesdiversitätsrat berät und/ oder beschließt über die Richtlinien der
Diversitätspolitik der Partei zwischen den Landesdelegiertenkonferenzen und
befasst sich mit Angelegenheiten, die die Landesdelegiertenkonferenz bzw. der
Landesparteirat an ihn delegiert. Deshalb ist wichtig, dass seine Mitglieder
möglichst vielfältige Diskriminierungs- und Benachteiligungserfahrungen
einbringen. Der Landesdiversitätsrat kontrolliert die Einhaltung und die
Umsetzung des Diversitätsstatuts. Der Landesdiversitätsrat koordiniert die
Arbeit zwischen den Gremien der Landespartei, den Fraktionen sowie den Bezirks-
und Kreisverbänden.

(2) Dem Landesdiversitätsrat gehören an:

  1. Der*die vielfaltspolitische Sprecher*in und ein weiteres Mitglied des
    Landesvorstandes;
  2. zwei Delegierte pro Bezirksverband, davon eine*r der
    Bezirksverbandsvorsitzenden und ein weiteres Mitglied des Bezirksverbands;
  3. je ein Mitglied der Landtagsfraktion, sowie der Landesgruppe im Bundestag und
    im Europäischen Parlament, die von der Fraktion bzw. der Gruppe entsandt werden;
  4. zwei Delegierte*r der Landesvereinigung BuntGrün NRW;
  5. zwei Mitglieder der GRÜNEN JUGEND NRW, davon soll mindestens ein Mitglied aus
    dem Landesvorstand sein;
  6. der*die Vielfaltsreferent*in als beratendes Mitglied.
  7. Der Landesdiversitätsrat zieht punktuell oder dauerhaft weitere Personen
    beratend zu seinen Sitzungen hinzu.

(3) Alle Mitglieder des Landesdiversitätsrates müssen, mit Ausnahme der
beratenden Mitglieder, Mitglieder der Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NRW sein. Die
Amtszeit der Mitglieder im Landesdiversitätsrat beträgt zwei Jahre; Wiederwahl
ist möglich. Bei der Delegation ist die Repräsentanz der Vielfalt der
Gesellschaft dadurch abzubilden, dass, wo dies möglich ist, mindestens eine
Person der jeweiligen Delegation über Diskriminierungs- und
Benachteiligngserfahrung auf Grund eines Diversitätsmerkmals einbringt. Eine
Vielfalt der Diversitätsmerkmale über die Gesamtzusammensetzung ist anzustreben.
Alle Delegierten sind mindestquotiert zu wählen. Das volle Stimmrecht im
Landesdiversitätsrat erhalten nur die mindestquotiert entsandten Delegationen.

(4) Der Landesdiversitätsrat tagt mindestens viermal jährlich. Zu weiteren
Sitzungen tritt der Landesdiversitätsrat zusammen, wenn ein Fünftel der
Mitglieder oder der Landesvorstand dies verlangen.

(5) Der Landesdiversitätsrat tagt in der Regel parteiöffentlich; er kann die
Öffentlichkeit mit einfacher Mehrheit ausschließen.

(6) Der Landesdiversitätsrat gibt sich eine Geschäftsordnung und ein jährliches
Arbeitsprogramm, das der Landesdelegiertenkonferenz vorgelegt wird.

§ 6 Entsendung in den Bundesdiversitätsrat

Der Landesdiversitätsrat entsendet aus den eigenen Reihen die Delegierten bzw.
Ersatzdelegiertden des Landesverbandes in den Bundesdiversitätsrat.

§ 7 Votum

(1) Bei der Behandlung von Anträgen, die die Lebensbereiche von im
Vielfaltsstatut benannten Gruppen betreffen, hat der Landesdiversitätsrat das
Recht, auf Landesdelegiertenkonferenzen und Landesparteiräten ein Votum zu
vergeben.

(2) Der Landesdiversitätsrat hat das Recht, zu allen Anträgen an die
Landesdelegiertenkonferenz und den Landesparteirat, die die vielfaltspolitischen
Grundsätze von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NRW betreffen, in einem Redebeitrag
Stellung zu nehmen.

§ 8 Vielfalts-Kongress

(1) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NRW führt alle zwei Jahre einen Vielfalts-Kongress
durch und stellt die dafür notwendigen finanziellen Mittel zur Verfügung.

(2) Der Vielfalts-Kongress ist öffentlich. Er hat u.a. die Aufgabe, den Dialog
mit Multiplikator*innen, Verbänden und Vertretungen diskriminierter Gruppen zu
stärken.

(3) Der Landesdiversitätsrat bereitet den Vielfalts-Kongress zusammen mit
dem*der Vielfaltsreferent*in vor.

(4) Weitere vielfaltspolitische Veranstaltungen in Form von Aktionswochen,
Diskussionsabenden, Kampagnen, Gedenktagen werden angestrebt.

§ 9 Vielfaltsreferat

(1) In der Landesgeschäftsstelle wird ein Vielfaltsreferat eingerichtet. Hierzu
stellt der Landesvorstand eine*n Vielfaltsreferent*in ein.

(2) Das Vielfaltsreferat wird finanziell und materiell angemessen ausgestattet.

(3) Das Vielfaltsreferat entwickelt in Zusammenarbeit mit dem Landesvorstand und
dem Landesdiversitätsrat Maßnahmen, die zur angestrebten gleichberechtigten
Teilhabe und der Repräsentanz von diskriminierten Gruppen und Menschen innerhalb
von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NRW und in der Gesellschaft beitragen.

(4) Der*die Vielfaltsreferent*in hat Teilnahme- und Mitspracherecht in allen
landesweiten Gliederungen von BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN NRW. Der*die
Vielfaltsreferent*in soll Bezirks-, Kreis- und Ortsverbände beraten.

III. Geltung

§ 10 Geltung

(1) Das Vielfalts-Statut ist Bestandteil der Satzung des Landesverbandes von
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NRW. Es tritt am Tag seiner Beschlussfassung in Kraft.

(2) Die Bezirks-, Kreis- und Ortsverbände sind aufgefordert, Regelungen in ihre
Satzungen aufzunehmen und Maßnahmen zu ergreifen, die zur gesellschaftlichen
Vielfalt in ihren Gremien beitragen, soweit die Regelungen dieses Statuts nicht
direkt anwendbar sind.

-beschlossen auf der Landesdelegiertenkonferenz Dortmund am 21. August 2021-