Beschluss der Landesdelegiertenkonferenz am 29. Juni 2024.
Die Mordserie des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) und das Staatsversagen bei dessen Verfolgung und Aufklärung ist eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte und stellt eine tiefe Zäsur dar.
Die drei rechtsextremen Haupttäter*innen ermordeten zwischen 2000 und 2007 neun Menschen mit Migrationsgeschichte und eine Polizistin, verübten 43 Mordversuche, drei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle. Das Umfeld an Beteiligten und vernetzten Unterstützer*innen wird auf 100 bis 200 Personen geschätzt, darunter V-Personen und Funktionäre rechtsextremer Parteien.
Viele dieser schrecklichen Taten fanden auch in NRW statt. In der Kölner Innenstadt wurde 2001 eine 19-jährige Deutsch-Iranerin bei einem Anschlag auf das Kölner Lebensmittelgeschäft ihrer Eltern schwer verletzt. Drei Jahre später verübte der NSU in Köln-Mülheim einen Nagelbombenanschlag, bei dem über 20 Menschen mit meist türkischer Migrationsgeschichte teils schwer verletzt wurden. 2006 ermordete der NSU den Dortmunder Kioskbesitzer Mehmet Kubaşık.
Rassistische Motive bei den Taten wurden von den Ermittlungsbehörden lange Zeit negiert und noch Mitte der 2000er Jahre wurde vom Verfassungsschutz beteuert, dass es so etwas wie eine “braune RAF” in Deutschland nicht gebe. Eine dramatische Fehleinschätzung. Auch nach Bekanntwerden der schrecklichen Verbrechen blendeten die Ermittler*innen und ein Großteil der Öffentlichkeit die rechtsextremen Hintergründe über viele Jahre weitgehend aus und suchten die Täter*innen stattdessen im Umfeld der Opfer. Eine unerträgliche und bis heute schmerzhafte Stigmatisierung derer, denen gerade erst Schlimmstes widerfahren war.
Dieses Handeln hat das Vertrauen vieler Menschen in die Ermittlungsbehörden und unseren Staat tief erschüttert. Und ausgerechnet als der Öffentlichkeit das Ausmaß der jahrelangen Mord- und Anschlagsserie offenbar wurde, vernichteten Beamt*innen des Verfassungsschutzes in Bund und Ländern relevante Akten und behinderten so die Aufklärung, die wir den Opfern und Angehörigen schuldig sind.
Trotz der historischen Anzahl von 15 parlamentarischen Untersuchungsausschüssen auf Bundes- und Landesebene und des Prozesses gegen fünf Angeklagte bleiben noch immer zahlreiche Fragen unbeantwortet. Auch 13 Jahre nach der Aufdeckung des “Kerntrios” ist die Aufklärung des NSU-Komplexes noch nicht abgeschlossen. Die Netzwerke des NSU, die Rolle von V-Personen und die Kenntnisse von Sicherheitsbehörden in Bund und Ländern – all dies liegt weiterhin zu Teilen im Dunkeln.
Der Terror des NSU war eindeutig rassistisch motiviert und ein schwerwiegender Angriff auf unsere vielfältige Gesellschaft und unser demokratisches Miteinander. Der Schmerz, der Verlust und die Stigmatisierung, die den Betroffenen zugefügt wurde, ist unermesslich und wirkt bis heute nach. Daraus erwächst eine immense politische Verantwortung für die Gegenwart und Zukunft. Wir GRÜNE NRW stellen uns dieser Verantwortung.
Die Bundesregierung hat 2022 den Nationalen Gedenktag für die Opfer terroristischer Gewalt für den 11. März eingeführt, der auch an die Opfer der NSU erinnert. In diesem Jahr konnten wir dieses Gedenken bereits zum dritten Mal begehen. Wir setzen uns dafür ein, dass dieser Tag auch auf Landes- und kommunaler Ebene mit Leben gefüllt wird.
Gerade in Zeiten, in denen die Bedrohung vor allem durch rechtsextremistische, rassistische und antisemitische Gewalt wächst, braucht es eine konsequente Aufarbeitung und vollständige Aufklärung der Verbrechen. Wir betrachten dies als eine zentrale staatliche Aufgabe und auch als einen wichtigen Beitrag bei der Prävention von rechtsextremistischen Taten. Denn nur durch eine vollständige Aufklärung kann die gesellschaftliche Sensibilität für gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit erhöht werden.
Bis heute sind die Dokumentation der Verbrechen des NSU und das Gedenken an die Opfer nicht ausreichend in der Bundesrepublik und in NRW verankert. Diese Lücke muss geschlossen werden. Wir GRÜNE NRW begrüßen, dass die Ampel-Koalition im Bund sich in ihrem Koalitionsvertrag darauf verständigt hat, die Aufarbeitung energisch voranzutreiben und ein Archiv zu Rechtsterrorismus in Zusammenarbeit mit betroffenen Bundesländern auf den Weg zu bringen.
Damit folgt die Koalition der jahrelangen Forderung von Opfern und Angehörigen. Im Rahmen einer Machbarkeitsstudie der Bundeszentrale für politische Bildung wurden zudem wichtige Kriterien für ein Dokumentationszentrum des Bundes für die Opfer des NSU erarbeitet. Dazu gehört, dass dieses Dokumentationszentrum das umfassende Staatsversagen thematisiert, Orte des würdigen Gedenkens schafft und Bildungsangebote zur Geschichte des Rechtsterrorismus in Deutschland bereitstellt. Wir begrüßen, dass die Bundesregierung gemeinsam mit dem Freistaat Sachsen und der Stadt Chemnitz bereits ein NSU-Dokumentationszentrum vor Ort plant. An diesem Ort, an dem sich die Täter*innen über Jahre lang verstecken konnten und sich sicher fühlten, soll an die Opfer erinnert, das Geschehene aufgearbeitet und Raum für politische Bildung geschaffen werden.
Für den Aufbau einer bundesweiten, mehrortigen Dokumentation und Erinnerung braucht es eine dauerhafte und angemessene finanzierte Trägerstruktur in Gestalt einer öffentlich-rechtlichen Stiftung. Die Gesetzgebung für diese Stiftungsgründung muss noch vor der nächsten Bundestagswahl abgeschlossen werden.
Die Aufarbeitung der Taten und das Gedenken an die Opfer ist eine Aufgabe von Staat und Gesellschaft. Die Perspektive der Opfer und Angehörigen muss dabei höchste Priorität haben und ihre Einbeziehung auf Augenhöhe sichergestellt sein. Nur unter diesen Voraussetzungen kann ein gesamtgesellschaftlicher Erinnerungsprozess gelingen und ein Dokumentationszentrum die notwendige Akzeptanz erfahren.
Die Zahl der Betroffenen ist in NRW besonders hoch. Wir GRÜNE NRW setzen wir uns deshalb für den Ansatz eines zentralen NSU-Dokumentationszentrums mit zusätzlichen dezentralen Erinnerungsorten und Aufarbeitungsinitiativen ein. NRW muss als Bundesland Teil dieser mehrortigen Standort-Suche sein.
Ein so strukturiertes Dokumentationszentrum zum NSU wäre ein wichtiges Zeichen, dass die Betroffenen von Staat und Politik ernst genommen werden, nachdem sie lange stigmatisiert wurden. Mit einer dezentralen Verbundstruktur können bereits bestehende Erinnerungsorte und Aufarbeitungsinitiativen abgesichert und unterstützt werden, um so der Mehrortigkeit des NSU-Komplexes gerecht zu werden und im Sinne der Opfer und Angehörigen ein Gedenken in der Nähe der Heimatorte zu ermöglichen. Dafür muss auch eine Berücksichtigung der Orte in NRW sichergestellt sein.
Viele Opfer und Angehörige fühlen sich heute noch mit ihren Traumata und einer teils finanziell-prekären Lage allein gelassen. Rassismuserfahrungen durch die polizeiliche Ermittlung, mediale Diffamierung, soziale Stigmatisierung, gesellschaftliche Ignoranz und staatliches Versagen wirken bis heute bei ihnen als gewaltsame Erfahrungen nach. Deshalb sind umfassende psychosoziale Angebote und finanzielle Entschädigungen für alle Betroffenen der NSU-Verbrechen wichtig.
Nichts kann das entstandene Leid ungeschehen machen. Doch Aufarbeitung, Entschädigung und Erinnerung sind das Mindeste, was wir den Opfern, ihren Angehörigen und zukünftigen Generationen schuldig sind. Nur so können wir dazu beitragen, das verlorene Vertrauen in unsere Behörden und den Staat wiederherzustellen und unserer Verantwortung gerecht zu werden.
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