Beschluss der Landesdelegiertenkonferenz am 30. Juni 2024.
Wir GRÜNE in NRW setzen uns ein für eine hochwertige und menschenwürdige Versorgung sowie ein gutes Arbeitsklima im Gesundheits-/Pflegesystem, bei gleichzeitiger Sicherstellung von Praktikabilität und Finanzierung. Dieser Dreiklang ist jedoch gefährdet und einige Einrichtungen behelfen sich bei Personalengpässen mit Leiharbeit. Anstatt dieses Symptom des strukturellen Pflegenotstands zu verbieten, wollen wir neben notwendiger Regulierung auch Alternativen aufzeigen, die Ursachen angehen und geeignete Maßnahmen in einem Pflegestärkungsgesetz zusammenführen.
Zwar stieg der Anteil an Leiharbeit zuletzt an, allerdings auf durchschnittlich niedrigem Niveau. In Krankenhäusern liegt der Anteil der Leiharbeit bei 1-2%, wobei 2021 nur etwa 30% der Krankenhäuser Leiharbeit nutzten. Die Anteile in der Langzeitpflege liegen punktuell deutlich höher, was vor allem ein Warnsignal für die entsprechenden Einrichtungen ist.
Wir als GRÜNE sehen Vor- und Nachteile der Leiharbeit: Aus Sicht der Patient*innen ist eine Leiharbeitspflegekraft besser als keine pflegerische Unterstützung, aber auch der Wunsch nach konstanter Pflegequalität durch vertraute Personen zu berücksichtigen. Aus Sicht der Mitarbeitenden bietet sie für manche bessere Bezahlung und Arbeitsbedingungen, weswegen wir die individuelle Entscheidung gut nachvollziehen können, sorgt aber auch für mehr Ungleichheit, da die Stammbelegschaft die größeren Lasten trägt. Aus Sicht der Einrichtungen ist die Leiharbeit teils unverzichtbar, um Mindestbesetzungen sicherzustellen, aber auch unverhältnismäßig teuer und nicht immer refinanzierbar.
Das bringen wir als Politik zusammen, indem wir:
- Anreize und Förderungen schaffen zur langfristigen Sicherung von qualifiziertem Personal und Teamzusammenhalt
- Personalpools in Verbünden und gut bezahlte Notfallreserven vereinfachen
- Pilotprojekte für neue Arbeitsplatzmodelle im Sinne von New Work einrichten
- die verbindliche kommunale Pflegebedarfsplanung flächendeckend umsetzen und quartiersorientiert ausrichten
- pflegende An- und Zugehörige deutlich stärker unterstützen
- Leiharbeit – wo notwendig – stärker regulieren und begrenzen
Ursachen bekämpfen
Wertschätzung
Nur 30% der Pflegekräfte können sich vorstellen, ihren Job bis zum Renteneintritt auszuüben. Neben der hohen Arbeitsbelastung spielt dabei auch mangelnde Wertschätzung und Bezahlung eine Rolle. Pflege wird beklatscht, aber nicht wirklich anerkannt. Wir GRÜNE wollen deshalb die Akademisierung der Pflege fördern und haben dafür bereits eine Ausbildungsvergütung auf den Weg gebracht. Denn auch die Bezahlung ist eine Form der Wertschätzung. Gleichzeitig muss ein niedrigschwelliger Zugang in den Pflegebereich weiter gegeben sein und attraktiver gestaltet werden, u.a. für Pflegehilfskräfte. Obwohl das Tarifniveau in der Pflege in NRW deutschlandweit am höchsten ist und die 2022 eingeführte Vergütung gemäß Tarifverträgen zu teils deutlichen Verbesserungen geführt hat, gibt es weiterhin hohe Lohnunterschiede in unterschiedlichen Beschäftigungsformen. Urlaubs- sowie Pausenregelungen werden durch Schlupflöcher umgangen. Hier muss der Bundesgesetzgeber absichernd nachsteuern. Wir fordern daher den Korridor für übertarifliche Bezahlung in der Refinanzierung auf 15% zu erhöhen und Zuschläge für Nacht- und Wochenenddienste komplett steuer- und abgabenfrei zu stellen.
Anders arbeiten
Nur zufriedene Pflegekräfte bleiben dauerhaft im Betrieb. Das erfordert nicht nur verbesserte Personalschlüssel bzw. Leistungsentgelte für alle Berufsgruppen in der Pflege, Hauswirtschaft und im Sozialen Dienst, sondern auch die Erprobung neuer Konzepte, wie New Work oder Buurtzorg, in Pilotprojekten, mit weniger Hierarchie und mehr Möglichkeiten zur Potenzialentfaltung. Flexibilität, Freiheit und Selbstbestimmung sowie kontinuierliche Weiterentwicklung steigern die Motivation. Konkret: Individuelle und familienfreundliche Arbeitsregelungen (z.B. 4-Tage-Woche), kleinere selbstbestimmte Zeitbudgets (in Absprache mit der Teamleitung, z.B. am Bett, Projekte, Abteilungspraktika), mehr Mitsprache (z.B. bei Dienstplänen), digitalere Abläufe, eigenverantwortlich heilkundliche Aufgaben übernehmen, Fortbildungen und interprofessionelle Teams. Die dafür notwendige transformationale Führung muss dann mehr motivieren und für Partizipation und Eigeninitiative sorgen. Das wollen wir bei Pflegeeinrichtungen und -angeboten sowie mehreren Abteilungen von NRW-Unikliniken testen.
Leiharbeit regulieren
Leiharbeit ist teils notwendig, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, aber keine optimale Lösung für den Personalmangel in der Pflege. An einigen Stellen setzen wir uns für deren stärkere Regulierung ein. Wir wollen aggressive Abwerbekampagnen durch Leiharbeitsfirmen unterbinden. Diese müssen Verantwortung und Kosten für fachliche Qualifikation sowie ortsbezogene Einarbeitung und Prozess-Standardisierung übernehmen (Haftungsfreistellung). Ihre Betriebserlaubnis wollen wir an branchenspezifische Standards knüpfen (Zertifizierungen). Zur Qualitätssicherung und Bewahrung des Betriebsklimas halten wir einrichtungsbezogene Obergrenzen von Leiharbeitenden für angeraten. Übermäßige Gewinnmargen bei der Arbeitnehmerüberlassung (ANÜ) lehnen wir ab und wollen die Refinanzierung anpassen. Bei Nicht-Einhaltung der ANÜ streben wir verbindliche gesetzliche Ausfallzahlungen an.
Stationären Bedarf senken
Pflege im Quartier
Den Bedarf an Leiharbeit können wir nur reduzieren, wenn wir Strukturen schaffen, die ambulante statt stationäre Behandlungen und Pflege ermöglichen. Weg von Großeinrichtungen hin zu einer umfassenden Pflege u.a. in Pflegewohngemeinschaften und netzwerkorientierten Trägerstrukturen und Angeboten im Lebensumfeld der Betroffenen, die zudem ein besseres Arbeitsumfeld für Pflegende schaffen. Hierzu ist eine sektor- und trägerübergreifende Zusammenarbeit inklusive Aufbau gemeinsamer personeller Ressourcen notwendig, ebenso wie der Ausbau von präventiven und vorpflegerischen Angeboten. Das Alten- und Pflegegesetz (APG NRW) sowie Wohn- und Teilhabegesetz (WTG) werden wir quartiersorientiert weiterentwickeln. Im Landesförderplan “Alter und Pflege” wollen wir einen Personalkostenzuschuss für die Einstellung von Quartiersmanager*innen in den Kommunen verankern. Die Pflegeversicherung muss künftig auch pflegeunterstützende Quartiersarbeit mit refinanzieren.
Häusliche Pflege
Menschen, die auf eine Dauerpflege angewiesen sind, möglichst lang den Verbleib in ihrer Wohnumgebung zu ermöglichen, entspricht oft ihrem Wunsch und nach der UN-Behindertenrechtskonvention auch ihrem Recht. Eine gute häusliche Pflege könnte die stationäre Pflege entlasten. Doch davon sind wir weit entfernt: viele häuslich Pflegende sind psychisch sowie physisch überfordert und arbeiten teils in einer arbeitsrechtlichen Grauzone. Das erfordert nicht nur besser koordinierte quartiersorientierte Strukturen, sondern auch deutlich mehr Unterstützung. Wir vernetzen professionelle Anbieter, ehrenamtliche und private soziale Netzwerke und Familien, um gemeinsam unterstützende Strukturen zur Versorgung pflegebedürftiger Menschen zu entwickeln. Wir setzen uns für rechtssichere, faire und bezahlbare Pflege-Modelle ein. Wir wollen Lebensarbeitszeitkonten einführen, damit Menschen ihre Wochenstunden flexibel gestalten können, um u.a. auf den Pflegebedarf ihrer Angehörigen reagieren zu können. An- und Zugehörige wollen wir stärker unterstützen: mit höherer Verfügbarkeit von Verhinderungspflege, perspektivisch mit einem aufstockenden Landespflegegeld für Pflegebedürftige, durch Ausbau der Tages-, Nacht und Kurzzeitpflege, von Pflege-WGs, Quartierstützpunkten oder Nachbarschaftszentren.
Alternativen prüfen
Personalpools
In Zeiten des Fachkräftemangels brauchen wir innovative Ansätze, um die Versorgung in der Pflege aufrechtzuerhalten. Verbundkonzepte, die verschiedene Einrichtungen miteinander verbinden, können eine Lösung sein. Die teilweise bereits eingesetzten Personalpools ermöglichen es, qualifizierte Mitarbeiter*innen über mehrere Betriebe, Träger und Bereiche hinweg einzusetzen, was Flexibilität erhöht und gleichzeitig eine langfristige Bindung der Fachkräfte an eine übergeordnete Teamstruktur fördert. Das sollte in allen weiteren Bedarfsplanungen des Landes NRW bzw. der Kommunen berücksichtigt werden. Wir wollen die Nutzung von Personalpools in allen Bereichen der Pflege vereinfachen und bei gleichzeitiger Sicherung von Qualität und Standards haftungs- sowie datenschutzrechtlich absichern.
Geflüchtete einbinden
Es gibt ein nicht geringes Potenzial an jungen, interessierten Menschen, denen aber die Zusicherung fehlt, zum Beispiel eine Pflege-Ausbildung auch beenden zu können, sondern und darüber hinaus eine mittelfristige Perspektive in unserem Land für sich selbst zu haben. Die Pflegebetriebe wiederum benötigen diesbezüglich Planungssicherheit. Hier ist eine Gesetzesänderung notwendig.
Notfallreserven
Ein weiterer Ansatz zur Sicherung personeller Ressourcen und mehr Planungssicherheit besteht in der Schaffung von vorhaltbaren personellen Notfallreserven, angelehnt an Bereitschaftsdienste. Hierfür kommen Teilzeitbeschäftigte in Frage, ebenso wie ehemalige Pflegekräfte und Vollzeitbeschäftigte, die punktuell bereit wären mehr zu arbeiten. Eine überdurchschnittliche Entlohnung und klare Definition der Rahmenbedingungen wären entscheidend für deren Bereitschaft zur räumlichen und zeitlichen Flexibilität im Einsatzfall. Dem Team aus der Not zu helfen und anderen unerwünschte Pflicht-Springereinsätze zu ersparen, sind, verbunden mit der damit verbundenen Wertschätzung, ein weiterer Motivator. Wir fordern hierzu auf Landesebene Pilotprojekte, insbesondere zur Koordination von trägerübergreifenden Notfallpools und anderen Formen der Rekrutierung von Notfallreserven, mit anschließender Evaluation.
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