Beschluss der Landesdelegiertenkonferenz am 30. Juni 2024.
Wir alle wollen in einer Welt ohne Wohnungs- und Obdachlosigkeit leben! Als GRÜNE in NRW unterstützen wir deshalb das ambitionierte Ziel von EU, Bundes- und Landesregierung, diese bis 2030 zu überwinden. Hierzu bedarf es einer umgehenden konzertierten Kraftanstrengung aller politischen Ebenen sowie neuer Ideen und Konzepte, wie eines Rechtsanspruches auf menschenwürdiges Wohnen.
Zu einem nötigen Gesamtkonzept gehören auch effektivere Prävention, ein Sozialrecht, das niemanden aufgrund der Herkunft ausschließt und eine bessere Versorgung für Menschen mit psychischen Erkrankungen und Suchterkrankungen.. Wir müssen die Kommunen befähigen, den hierzu notwendigen bezahlbaren Wohnraum bereitzustellen, Hilfsangebote auszuweiten und menschenwürdiger zu gestalten. Dazu müssen wir Barrieren und bürokratische Hürden abbauen, individuelle Bedarfe besser abdecken und zusätzliche Fachkräfte mobilisieren. Bewährte Konzepte, wie zum Beispiel Housing First, gilt es flächendeckend in die Praxis umzusetzen. Hierzu wollen wir alle finanziellen Spielräume im angespannten Landesetat ausnutzen.
Die bisherigen Bemühungen und Instrumente auf Landesebene wollen wir verstetigen und in einem landesweiten Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit weiterentwickeln: u.a. die intensive Wohnungsbauförderung, die Landesinitiative “Endlich ein ZUHAUSE!”, Projekte gegen den Wohnungsverlust, oder die Armutskonferenz.
Laut Integrierter Wohnungsnotfall-Berichterstattung waren 2022 im Land NRW 78.350 Menschen ohne eigene Wohnung, davon leben bis zu 1/3 zeitweise auf der Straße, gelten also als obdachlos. Tendenz: steigend. Zudem ist von einer Dunkelziffer auszugehen, denn manche Gruppen werden gar nicht erfasst.
Obdachlosigkeit ist eine der schwersten und tödlichsten Ausprägungen von Armut und Wohnungslosigkeit. Das zeigen auch die brutalen Übergriffe in verschiedenen NRW-Kommunen, die zuletzt zugenommen haben. Gewalt gegen Obdachlose ist niederträchtig und menschenfeindlich. Das dürfen wir als Gesellschaft nicht hinnehmen und müssen unserer Schutzverpflichtung nachkommen.
Wohnungs- und Obdachlosigkeit betrifft inzwischen auch viele junge Menschen und Familien. Sie hat diverse, oft verdeckte Formen, die gerade für Frauen oft mit gefährlichen Abhängigkeiten einhergehen und sie wird bei Asylbewerber*innen sogar gesetzlich erzwungen. Deswegen wenden wir uns gegen jede Form von klischeehafter Darstellung, Stigmatisierung und offener Diskriminierung wie z.B. durch defensive Architektur oder übermäßig restriktive Stadtordnungen. Eine Politik, die auf Verdrängung setzt, statt die Ursachen in den Blick zu nehmen und dort auf Veränderungen zu pochen, ist und bleibt menschenfeindlich.
Dieser Antrag legt den Schwerpunkt auf landesgesetzlich umsetzbare Punkte und die bessere Unterstützung und Vernetzung der Kommunen.
Strukturelle Fragen
Um Wohnungslosigkeit zu überwinden, brauchen wir ein grundsätzliches Umdenken, das wohnungslose Menschen nicht als Gefahr für die Gesellschaft, sondern als Menschen mit gleichen Rechten und gleicher Würde behandelt. Und wir müssen das rassistische Zwei-Klassen-System von deutschen und nicht-deutschen Wohnungslosen überwinden, das einer echten Lösung im Wege steht. So wollen wir für flexiblere Handlungsmöglichkeiten, mehr Rechtssicherheit für Verwaltungsangestellte und eine menschenwürdige Behandlung aller Betroffenen sorgen. Dazu brauchen wir deutlich mehr und leichter zugängliche Fördermittel, das dafür nötige – auch fremdsprachlich geschulte – Fachpersonal sowie eine bessere Vernetzung von Kommunen, Landschaftsverbänden, Land, Bund und Europäischer Union. Um das zu erreichen fordern wir:
- ab 2030 einen Rechtsanspruch auf Wohnen
- Aufnahme von Wohnungs- und Obdachlosen als benachteiligte Gruppe im künftigen Landes-Antidiskriminierungsgesetz
- die konsequente Umsetzung des Wohnraumstärkungsgesetzes und ein neues Wohnungslosenhilfegesetz in NRW, das landesweite Mindeststandards definiert
- die Kommunen zu vernetzen und unterstützen mit einer Beratungsstelle im MAGS zur Beantragung von Fördergeldern sowie einer Online-Plattform mit Orientierungshilfen anhand von Best Practices-Beispielen
- mehr Integrationsangebote für EU-Bürger*innen und einen alternativen Finanzierungsweg für Kommunen, die freiwillig dauerhafte Unterbringungen bieten, in Kooperation von Bund, Land und EU
Prävention
Jede*r neue Wohnungslose ist nicht nur eine persönliche Tragödie, sondern eine langfristige, kostenintensive Belastung unserer Sozialsysteme. Wer Wohnungslosigkeit überwinden will, darf deshalb keine neue entstehen lassen, weder aufgrund von Armut, psychischer Probleme noch fehlender Anschlussunterbringung. Viele Fälle von Wohnungslosigkeit ließen sich vermeiden, wenn es eine frühzeitigere Informierung der in einigen NRW-Kommunen bereits existierenden Wohnungsfachstellen gäbe. Und wir wissen: Mit niedrigschwelligen Hilfsangeboten und einer persönlichen Ansprache lässt sich mehr erreichen als mit mehrseitigen Anschreiben und Antragsformularen in unverständlichem Behördendeutsch. Denn die erreichen Betroffene oft gar nicht, weil diese aus Angst ihren Briefkasten nicht leeren. Deshalb fordern wir:
- eine landesweite 24-Stunden-Notfallnummer bei drohendem Wohnraumverlust und eine automatische Informierung der Kommune bei Räumungsklagen
- die konsequente Umsetzung des standardisierten Entlassmanagements aus Strafvollzug, Psychiatrie und Krankenhäusern in NRW, das niemanden auf die Straße setzt, wo notwendig auch durch gesetzliche Verschärfungen
- die Übernahme von Mietschulden auf Darlehensbasis mit Unterstützung finanzschwacher Kommunen und stärkere Nutzung der (freiwilligen) Beschlagnahme mit Wiedereinweisung in die Wohnung
Wohnraum
Wohnungslosigkeit lässt sich nur beenden, indem wir den Betroffenen Wohnraum bieten, ohne dabei unnötige Hürden aufzubauen. Zum Beispiel mit dem bewährten Housing First-Konzept statt bürokratischer Wohnbefähigungsprüfungen, die Betroffene unter Generalverdacht stellen. Vorhandene, zum Wohnen geeignete Räume, gilt es effektiver zu nutzen und für Wohnungslose verfügbar zu machen, die aufgrund ihres Status, negativer Schufa-Einträge und nicht-vorhandener Einkünfte keine realistische Chance auf dem regulären Wohnungsmarkt haben. Dazu brauchen wir auch Mittler zwischen privaten Vermieter*innen und Hilfsbedürftigen, die helfen, Berührungsängste abzubauen und eine zusätzliche Ebene der Absicherung schaffen. Die Armutskonkurrenz um bezahlbaren Wohnraum wollen wir trotz aktuell ungünstiger Rahmenbedingungen mit einer gezielten Wohnungsbau- und Sanierungsoffensive für NRW reduzieren. Nicht zuletzt ist die konsequente Nutzung aller rechtlichen Spielräume zu Gunsten wohnungsloser Menschen erforderlich. Deshalb fordern wir:
- digitalisierte und beschleunigte Bauverfahren, serielles Bauen und einen Fokus auf Micro-Apartments
- die verbindliche Verankerung von „Wohnraum für Wohnungslose“ in der Stadtplanung, stärkere Bekämpfung von Zweckentfremdung, einfachere Zwischennutzung von Leerständen sowie erleichterte Umwandlung von Büroflächen
- die Förderung Sozialer Wohnraumagenturen, den flächendeckenden und vom Land, LVR und LWL bezuschussten Ausbau von Housing First-Projekten sowie Clusterwohnungen für pflegebedürftige Wohnungslose
- attraktivere Landeszuschüsse für den Aufkauf von Belegungsrechten und konsequente Nutzung von Besetzung-/Benennungsrechten, jeweils mit einer Mindestquote für obdachlose Menschen
Hilfesystem
Dass Tausende versteckt und menschenunwürdig unter Brückenpfeilern leben, in Zelten und anderen Behelfsbehausungen, oder in Hauseingängen, anstatt bestehende Notschlafstellen zu nutzen, muss uns als Gesellschaft ein Warnsignal sein. Uns spornt es an zu einem modernen Hilfesystem, das bei Betroffenen auf Akzeptanz stößt und diesen auf Augenhöhe begegnet. Hierzu bedarf es mehr aufsuchende Sozialarbeit und höhere Standards bei Sicherheit, Privatsphäre und Wohnfläche, Vorsprechzeiten und Tagesaufenthalten. Individuelle Lebenslagen gilt es stärker zu berücksichtigen und Ausgrenzungen zu vermeiden. Zudem dürfen Notschlafstellen und Mehrbettzimmer in Beherbergungsbetrieben keine Dauerlösung sein. Deshalb fordern wir:
- eine schrittweise Sanierung von Notschlafstellen und Umwidmung in permanente Unterbringungen, mit Unterstützung finanzschwacher Kommunen durch Land & Landschaftsverbände
- dass jedem Hilfebedürftigen nach spätestens drei Monaten eine menschenwürdige Unterbringung, auf Wunsch zumindest in einem abschließbaren Einzelzimmer, angeboten wird
- dezentralere, (sprach) barrierefreie, zielgruppengerechte Angebote, ob von
Frauen, Familien, Jugendlichen, LGBTQ+-Personen, Menschen mit Behinderung oder Haustieren, ohne zu restriktive Hausordnungen
Gesundheit
Obdachlosigkeit ist vor allem auch eine tiefe Wunde in unserem Gesundheitssystem, das Betroffene durch rechtliche, psycho-soziale und organisatorische Barrieren ausgrenzt und diskriminiert sowie keine nachhaltige Behandlung zulässt. Ihre Lebenserwartung liegt aufgrund der vielfältigen Gefahren des Lebens auf der Straße bei nur 50 Jahren. Wer nicht aufgrund von psychischen und Suchtproblemen seine Wohnung verliert, hat in der Folge oft mit solchen zu kämpfen. Die aktuellen Angebote reichen hierfür vorne und hinten nicht aus und sorgen für einen Drehtür-Effekt. Nur eine Abkehr von repressiver Drogenpolitik sowie garantierte Anschluss-Therapien und – Unterbringungen können das Problem nachhaltig lösen. Deshalb fordern wir u.a.:
- den Zugang aller Betroffenen zur medizinischen Regelversorgung und weiteren Leistungen der Sozialgesetzbücher und die Einführung eines anonymen Krankenscheines
- eine angemessene Co-Finanzierung von spezialisierten, niedrigschwelligen Behandlungsangeboten für Wohnungslose durch das Land und die Kassenärztlichen Vereinigungen, inkl. aufsuchender Angebote
- einen bedarfsgerechten Ausbau psychiatrischer Einrichtungen und ausreichend niedrigschwellige, ergebnisoffene und auf Dauer angelegte Angebote für suchtkranke Obdachlose, wie z.B. Wohngruppen
Fazit
Wir GRÜNE in NRW klagen nicht über Obdachlose, sondern tun konstruktiv etwas gegen Wohnungslosigkeit. Wir reden nicht nur über Obdachlose, wir reden mit ihnen! Ebenso wie mit den hunderten engagierten Mitarbeiter*innen der Wohnungslosenhilfe in NRW, die jeden Tag ihr Bestes geben. Für das Problem und die Arbeit daran braucht es Transparenz und Sichtbarkeit. Wir setzen uns dafür ein, dass es auf Landesebene ein Monitoring durch einen jährlichen Bericht gibt. In diesem Kontext wollen wir den Kommunen ohne adäquate Refinanzierung keine zusätzlichen Pflichtaufgaben übertragen.
Nur wenn alle politischen Ebenen, inklusive der Landschaftsverbände, eng zusammenarbeiten, der Bundesgesetzgeber die nötige Flexibilisierung des Sozialrechts vornimmt und die EU als Initiator der Zielvorgabe 2030 stärker in die Verantwortung tritt, ist ein Erfolg realistisch. Wir in NRW leisten, was wir leisten können. Denn wir wollen Wohnungs- und Obdachlosigkeit wirklich überwinden!
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