Beschluss der Landesdelegiertenkonferenz am 24. Mai 2025.
„Gurbet“ – das ist das türkische Wort für „Fremde“ und es steht für so vieles. Es steht vor allem mit all seinen Facetten sowie Widersprüchen für das neue Zuhause der Millionen Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter in Deutschland.
Nordrhein-Westfalen, so wie wir es heute als Zuhause kennen, haben wir auch den vielen Gastarbeiter*innen, also der ersten Generation der Arbeitsmigrant*innen, die zu Beginn der Republikgründung nach Deutschland kamen, zu verdanken. 1955 wurde das erste Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Italien geschlossen, also vor genau 70 Jahren. Es folgten weitere Abkommen mit Ländern wie Griechenland, Spanien, Marokko, Südkorea, Portugal, Tunesien und Jugoslawien. Im Jahr 1961 unterzeichneten die Bundesrepublik Deutschland und die Türkei das Abkommen zur Anwerbung von Arbeitskräften aus der Türkei. Dieses Abkommen jährt sich 2026 zum 70. Mal.
Die erste Generation der Arbeitsmigrant*innen, die zwischen 1955 und 1970 nach Deutschland kamen, ist heute größtenteils im Senior*innenenalter. Viele von ihnen verbrachten einen Großteil ihres Lebens hier, Deutschland ist für sie und ihre Familien zur Heimat geworden. Diese Generation hat das heutige Nordrhein- Westfalen maßgeblich mitgeprägt und ist ein wichtiger Bestandteil unserer vielfältigen Gesellschaft heute. Wir haben als Land von einer offenen und vielfältigen Gesellschaft profitiert, sie ist kulturell schlichtweg nicht wegzudenken. Diese Offenheit gilt es auch weiterhin hochzuhalten, denn sonst bleibt unserem Land die dringend nötige Einwanderung von Arbeits- und Fachkräften aus dem Ausland vorbehalten.
Damit die Lebensleistung angemessen gewürdigt wird
Die sogenannten „Gastarbeiter*innen“ aus diesen Ländern leisteten einen entscheidenden Beitrag zum wirtschaftlichen Aufstieg in der Nachkriegszeit. Doch sie waren vor allem bereit, in physisch besonders anspruchsvollen Wirtschaftssektoren unseres Bundeslandes zu arbeiten: im Bergbau oder in der Stahl- und Automobilindustrie, in Bereichen, die nicht nur unseren Wohlstand sichern, sondern auch kulturell feste Bestandteile unserer Identität und unseres Zusammenlebens ausmachen. Unter schwierigen und gesundheitlich belastenden Bedingungen, schlechten Wohnverhältnissen – oft unter langer Trennung von der Familie und zu oft auch unter vernachlässigten Arbeitssicherheitsstandards sowie schlechteren Stundenlöhnen. Die Arbeitsniederlegung überwiegend türkeistämmiger Arbeitnehmer*innen im Kölner Werk des Autoherstellers Ford für „1 DM mehr pro Stunde“ im August 1973, erzählt auch die Geschichte ihrer Widerständigkeit, bestehende Verhältnisse nicht einfach hinzunehmen.
Damit die Geschichten von Gastarbeiterinnen erzählt werden
Die Geschichte von Frauen unter den Arbeitsmigrant*innen, die einen erheblichen Teil der Arbeitskräfte stellten, wird auch heute noch zu selten erzählt. Migrantinnen fanden vor allem Beschäftigung in der Textil-, Bekleidungs-, Nahrungs- und Genussmittelindustrie, aber auch in vielen gesundheitsschädlichen Bereichen wie der Elektrotechnik und der Metallindustrie. Zudem gab es viele Bereiche im weiblichen Dienstleistungssektor, in denen die tarifliche Regelung entweder fehlte oder unzureichend war, wie zum Beispiel im Hotel- und Gaststättengewerbe oder in der Hauswirtschaft. Irreguläre Beschäftigungsverhältnisse spielten in diesen Sektoren eine relevante Rolle. So sind ehemalige Gastarbeiterinnen, heutige Mitbürgerinnen im Rentenalter, von Altersarmut und anderen sozialen Folgen in besonderer Weise betroffen.
Gurbet gestalten, damit Zusammenhalt gestärkt wird
Auch im 70. Jahr nach Unterzeichnung der Anwerbeabkommen mit Italien, der Türkei und den vielen weiteren Ländern ist die Würdigung der Lebensleistung von Arbeitsmigrant*innen eine gesellschaftliche Querschnittsaufgabe. Sich für ihre Belange einzusetzen heißt, weiter für eine offene, plurale Gesellschaft einzustehen und die zweiten, dritten, vierten und folgenden Generationen als die Bereicherung unserer Gesellschaft anzuerkennen, die sie sind. Die Zugehörigkeit der ersten Generation und ihrer Kinder zu Deutschland wurde von der Mehrheitsgesellschaft lange bestritten und musste von ihnen in jahrzehntelangen politischen Auseinandersetzungen und breiten gesellschaftlichen Bündnissen hart erkämpft werden. Zusätzlich zu alltäglichem und strukturellem Rassismus erlebten sie immer wieder Wellen von Hass und Ablehnung. So gehört die entschlossene Bekämpfung von Diskriminierung und Rassismus dazu.
Als BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NRW wollen wir ein würdevolles Altern der Senior*innen fördern, die im Zuge der Anwerbeabkommen nach Nordrhein-Westfalen kamen.
Deswegen setzen wir uns als BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NRW dafür ein:
- die Interkulturelle Öffnung in den Institutionen der Altenpflege und -hilfe nachhaltig voranzutreiben. Dazu gehört kultur- und diskriminierungssensible Pflege in den Rahmenlehrplan des Landes für die Ausbildung zur Pflegefachkraft aufzunehmen. Ziel sollte die Entwicklung einer kultur- und diskriminierungssensiblen Haltung sein. Bei der Umsetzung kultur- und diskriminierungssensiblen Ansätze darauf zu achten, dass niedrigschwellige, aufsuchende, muttersprachliche Informations- und Beratungsangebote zur Verfügung stehen.
- Besonders Senior*innen aus den Ländern, mit denen wir ein Abkommen abgeschlossen haben, erleben im Pflege- und Gesundheitssystem Ausgrenzung, zu oft auch eine doppelte – als Migrant*innen und als religiös markierte Personen. Wir setzen uns deshalb ausdrücklich für die Benennung und Bekämpfung von Rassismus in all seinen Formen ein, auch im Zugang zu Pflege, Wohnen, öffentlichem Raum und Teilhabe. Pflegestrukturen müssen kultursensibel, diskriminierungskritisch und religiös diversitätsbewusst gestaltet werden.
- Quartiersprojekte, die gegen die Vereinsamung im Alter arbeiten, für ältere Menschen aller Herkunftsländer zu öffnen und diese speziell zu fördern. Dabei darauf zu achten, aufsuchende Angebote zu etablieren, die die Betroffenen direkt ansprechen. Wohnraum zur Verfügung zu stellen, der altersgerecht, barrierefrei und vor allem sozial verträglich ist.
- Muslimische und andere religiöse Bestattungsmöglichkeiten in NRW zu schaffen und auszuweiten.
- Das Aufenthaltsrecht explizit für die erste Generation so zu gestalten, dass sie nicht mehr dazu verpflichtet sind, im 6-Monats-Takt eine Einreise in die Bundesrepublik vorzuweisen. Realität ist, dass gerade Senior*innen in ihren Geburtsländern eine längere Zeit im Jahr genießen möchten. Eine derartige Neuregelung bedeutet eine Anerkennung ihrer Lebenssituation und gebietet zudem den Respekt vor ihrer Lebensleistung.
Für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NRW steht aber auch fest, dass wir uns gemeinsam und parteiübergreifend weiterhin dafür einsetzen, Partizipation zu ermöglichen und Diskriminierung und Rassismus zu bekämpfen. So haben wir uns in der letzten Bundesregierung maßgeblich dafür eingesetzt, die Lebensleistung der Gastarbeitergeneration auch damit anzuerkennen, dass wir die Einbürgerung für sie erleichtert haben. Diese Erleichterungen gilt es jetzt auf Bundesebene von NRW aus zu verteidigen, so auch im Bundesrat.
Darüber hinaus werden wir uns weiterhin dafür einsetzen:
- Das kommunale Wahlrecht für Staatsbürger*innen aus Drittstaaten zu ermöglichen.
- Die Bekämpfung von Rassismus und Diskriminierung mit aller Kraft voranzutreiben.
- Echte Teilhabe muss ausgebaut werden: Wir setzen uns für die strukturelle Stärkung und finanzielle Ausstattung von Migrant*innenorganisationen ein. Unser Ziel bleibt dabei, dass politische Partizipation auf allen Ebenen der Einwanderungsgesellschaft gerecht werden muss. Integrationsräte und Beiräte können der erste Schritt sein, sind aber nicht das Ende dessen. Junge Menschen aus Einwandererfamilien brauchen Räume des Empowerments, politische Bildung und Zugang zu Entscheidungsprozessen. Antidiskriminierungsarbeit muss dauerhaft finanziert und in allen relevanten Institutionen verankert sein – von Schulen über Jobcenter bis zur Polizei.
Die Migrationsgeschichte von Nordrhein-Westfalen ist vielfältig und ein Gewinn für unser Einwanderungsland. Daher gilt es die Migrations- und Einwanderungsgeschichte Deutschlands und des Landes NRW in Kunst und Kultur zu fördern:
- Als BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NRW haben wir stets das Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland DOMiD am Standort Köln unterstützt. Seine Strahlkraft gilt es weiterhin zu stärken, da es noch zu viele Geschichten unter unseren Mitbürger*innen gibt, die es weiterzuerzählen gilt.
- So wollen wir die Migrations- und Einwanderungsgeschichte Deutschlands und des Landes NRW im Schulunterricht verankern.
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